Einsame Tränen

„Apfelschorle.“
So kalt, dass ihr Glas beschlug und feuchte Spuren auf ihren Fingern hinterließ. Ich stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank und drehte das Thermostat von Stufe 4 auf 2.
„Er braucht bestimmt nicht mehr lange“, wollte ich ein Gespräch eröffnen, doch sie sah aus dem Fenster in die trübe, beginnende Finsternis des Abends. Kleine Tropfen perlten die Scheibe hinunter und versammelten sich am unteren Rand, um gemeinsam die Reise als ein großer Tropfen fortzusetzen. Ich war mir nicht sicher, ob ich lieber ein kleiner oder ein Teil des großen Tropfes sein wollte.
„Möchtest du auch etwas?“, fragte ich sie und bot ihr eine Scheibe Brot an, die noch auf dem Holzbrett lag, neben dem frisch geschärften Messer, mit dem ich mir noch vor einer Minute in den Daumen geschnitten hatte.
Sie schüttelte den Kopf. Nahm noch einen Schluck Schorle und drehte das Glas in ihren Händen. Die Nägel waren abgekaut und die Finger sahen ranzig aus, wie zu alt gewordene Schinkenwurst.
Er steckte den Kopf in die Küche, auf seinem Haupt thronte ein fester Turban aus Handtüchern: „Ich bin gleich da“, versprach er und winkte zum Abschied.
„Tja, leider gehören wir nicht zur pünktlichen Sorte des Homo sapiens.“
Ich knibbelte am Pflaster meines Daumens und ärgerte mich über meinen neuerlichen Versuch, ein Gespräch anzufangen mit dieser jungen Frau, die augenscheinlich nichts mehr interessierte, als schnell aus der gemütlichen Küche raus in die Kälte und den Novembernebel zu kommen.
„Lass das lieber“, meinte sie und stellte das Glas ab. Erstaunt über die Reaktion ließ ich meinen Daumen in Ruhe und biss von meinem Brot ab.


 „Woher kennst du ihn?“, fragte sie, runzelte die Stirn und sah mich zum ersten Mal an. Ihre Augen waren grau und trübe, wie die meiner Großmutter: Wässrig und wirkten, als wäre sie selten anwesend auf dieser Welt. Ihr Haar, klamm von der nassen Luft draußen, war ungekämmt, wellig und reichte ihr bis zu den Schultern, die irgendwie in der Luft zu hingen schienen, ohne Halt. 
„Meinen Mitbewohner?“, fragte ich und stippte Krümel von meinem Teller, um sie gleich darauf wieder vom Finger zu streifen.
„Meine Großmutter hat ihn aufgegabelt, auf einem Spielplatz hier um die Ecke und ihn zu mir gebracht. Seitdem wohnt er hier.“
Sie nickte. Es schien einleuchtend, normal, einfach so einen Wildfremden bei sich aufzunehmen, ihn teilhaben zu lassen an allem, was das Leben ausmachte.
„Wo hast du ihn kennen gelernt?“, war meine Gegenfrage, die sie mit einem letzten Schluck Apfelschorle wegwischte, als hätte sie nie im Raum gestanden.
Er kam ins Zimmer, Schuhe an den Füßen, offene Regenjacke, Haare, die aussahen wie überlange Regenwürmer. Sie stand auf, schloss ihren Mantel und verließ die Küche, ohne noch einen letzten Blick an mich zu verschwenden. Auf dem leeren Glas konnte ich ihre Fingerabdrücke langsam verschwinden sehen.

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